Der Ortler
Von Norden über den Reschen-Pass in den oberen Vintschgau kommend, sieht man den 3899 m hohen Ortler, die höchste Erhebung der gleichnamigen, mächtig vergletscherten Alpengruppe als mächtigen Eisdamm vor sich liegen, der gleichsam wie eine unendlich wirkende Mauer den Weg nach Süden zu versperren scheint. Über dieses Massiv, das zu den höchsten und zweifelsohne imposantesten der Ostalpen zählt, stellte bereits der Tiroler Bauern-Kartograph Peter Anich im Jahre 1774 fest, dass der Ortler „der höchste Spiz im Lande Tyrol” sei.
In Bergsteigerkreisen gilt der Ortler immer noch als erstrebenswertes Ziel, das nur für denjenigen zu erreichen ist, der über genügend Ausdauer, Zähigkeit, Entschlossenheit, Zielstrebigkeit und Wil- lensstärke verfügt; Werte von denen man da und dort geneigt ist zu glauben, dass sie in der heutigen Zeit keinen Platz mehr hätten.
Nach Eintritt Italiens in den Krieg gegen Österreich-Ungarn im Mai 1915 entwickelte sich das Gebiet des Hauptkammes zwischen Stilfser-Joch und Tonal-Pass, wo von 1915 bis 1918 eine nahezu geschlossene Frontlinie verlief, zur exponiertesten und höchsten Kampffront der Weltgeschichte, an der in dreieinhalbjährigem Kampf Geschichte mit viel Leid und Blut geschrieben wurde.
Umso tragischer erscheint diese Tatsache, wenn man erfährt, dass diesem Frontabschnitt von höchsten Stellen nur die Rolle eines Nebenkriegsschauplatzes zugeteilt wurde und die Truppe bis 1918 nur das Allernotwendigste für diesen „Salonkriegsschauplatz” erhielt. Diese Rolle war das Ergebnis einer absolut unrealistischen Fehleinschätzung militärischer Theoretiker, wie dies auch Generalmajor Freiherr von Lempruch, Kommandant der 164. Infanteriebrigade, dem der gesamte nördliche Ortler-Frontabschnitt unterstellt war, in seinem Buch „Der König der Deutschen Alpen und seine Helden” zum Ausdruck brachte. So kam es auch, dass bei Kriegsausbruch die südliche Landesgrenze Tirols im Bereich des Ortlers völlig ungenügend mit verteidigungsfähigen Armeeeinheiten besetzt war. Es waren Tiroler Standschützen, die dem Ruf ihrer Offiziere folgend, die taktisch bedeutenden Punkte an der Ortler-Front in ihren Besitz brachten und bis Herbst 1915 hielten, als die Verteidigung von den aktiven Kaiserjägern und Kaiserschützen übernommen wurde. Diese hatten auch die Hauptlast des Gebirgskrieges bis 1918 zu tragen. Ab Spätherbst 1915 erstarrte der Kampf zu einem Stellungskrieg. Als vordringlichste Aufgabe galt es, den Ausbau der Stellungen und Unterkünfte sowie der Versorgungseinrichtungen wie Seilbahnen, Feldsteige oder Steighilfen voranzutreiben, um so die Voraussetzungen für die ständige Besetzung des Ortler-Gipfels zu schaffen. Dies wurde unter größtem persönlichen Einsatz der Soldaten auch erreicht, als im Sommer 1916 die Ortler-Front zum Brennpunkt des Gebirgskampfes wurde.
Im Katastrophenwinter 1916/17 trat der Kampf mit dem Feind gegen jenen mit der entfesselten Natur völlig in den Hintergrund. Die Unterkünfte lagen unter acht bis zehn Meter dicken Schneedecken und die Versorgung kam praktisch völlig zum Erliegen. Daraufhin verlagerte sich die Hauptintensität des Krieges im Gebirge an die südliche Ortler-Front, die nun Zentrum blutigsten Geschehens wurde.
Daher ist es nur verständlich, wenn die Nachricht vom Waffenstillstand am 3. November wie eine Erlösung von einer nicht mehr länger zu ertragenen Last empfunden wurde. Aber noch einmal eilte ein Teil des Freiwilligen Steirischen Schützenbataillons zum eisigen Gipfel des Ortlers um ein letztes Mal die altösterreichische Fahne zu hissen, auf die sie ihren Eid geleistet hatten, um so ein Zeichen für ein nicht zu brechendes Wertstreben zu setzen.
(Auszug aus der Laudatio v. HR Dr. Franz
Kaindl) |