Generalissimus Erzherzog Karl
Erzherzog Karl wurde vor 210 Jahren, am 5. September 1771 in Florenz geboren, Sohn des späteren Kaisers Leopold II., Enkel Maria Theresias. Ein schwaches Kind, bei dem sich bald Epilepsie zeigte; der geistliche Beruf schien das Einzige zu sein, wozu er taugte. Doch Carl wollte anderes. Gerade weil er so kränklich war und weil er es nicht wahrhaben wollte, dass man ihn abstempelte, entschloss er sich zum Studium des Militärwesens. Es war das gleiche Phänomen wie bei Prinz Eugen: Carl wie Eugen waren zu Geistlichen bestimmt und mussten sich gegen ihre Familien durchsetzen, um Soldaten werden zu können. Carls eigener Vater, Leopold von Toskana, bezeichnete die militärische Neigung seines Sohnes als „übertrieben und schädlich“. Erst 1792, als Carls Bruder Franz als römisch-deutscher Kaiser den Thron bestieg, fand der Erzherzog deutliche Förderung seiner Ambitionen. Der Ausbruch des Krieges gegen Frankreich ließ es geraten sein, dass die Habsburger selbst als Heerführer in Erscheinung traten, um den Einheitsgedanken des Reiches deutlich zu machen. Carl sollte daher so etwas wie eine Galionsfigur werden, er sollte lediglich repräsentieren, während die anderen die eigentliche Arbeit machten. Auch das war nichts, was nach Carls Geschmack gewesen wäre.
Mit 21 Jahren befehligte er die Vorhut der österreichischen Truppen in den Schlachten von Aldenhoven und Neerwinden. Er machte die verlustreichen Feldzüge in den österreichischen Niederlanden mit und eignete sich zu seinem theoretischen auch ein gehöriges Maß an praktischem Wissen an, bis er 1796, mit 25 Jahren, erstmals selbst den Oberbefehl übernahm. Doch nicht, wie man es ihm nahe gelegt hatte, als Repräsentant des Hauses, sondern als eigenständig denkender und handelnder Feldherr. Die Schlacht von Würzburg und die Vertreibung der Franzosen aus Süddeutschland zeigten, dass hier ein großes militärisches Talent herangewachsen war. Carls unüberwindliches Problem war nur, dass er keinen Einfluss auf den Gang der Politik nehmen konnte. Er wusste genau über den Zustand der Truppen und über die militärischen Möglichkeiten Bescheid, die Österreich im Krieg gegen die Franzosen gegeben waren, doch er scheiterte regelmäßig mit seinen Vorstellungen zur Begrenzung des Krieges.
Die politische Führung sah vieles als machbar an, von dem Carl wusste, dass es nicht gelingen konnte. Er resignierte aber nicht, sondern versuchte auch aus verfahrenen Situationen das Beste herauszuholen. Das war 1797 der Fall, als die Franzosen bis Leoben kamen, 1801, nach der Schlacht von Hohenlinden und besonders 1805, als Carl leidenschaftlich vom Beginn des Krieges abgeraten hatte. Da der Erzherzog aber mittlerweile der einzige Garant dafür geworden war, dass sich die Habsburgermonarchie überhaupt noch gegen das übermächtige Frankreich behaupten konnte, wurde ihm schließlich mehr Einfluss auf das Militärwesen der Monarchie eingeräumt als irgendjemandem nach Prinz Eugen. Genauso wenig war es aber jemand anderem bis zum Ende der Monarchie möglich, dieselbe administrative und praktische Machtfülle in sich zu vereinigen wie Erzherzog Carl. Dass dies so war, hing mit der seit Wallenstein herrührenden Furcht der Habsburger vor Missbrauch der Macht zusammen. Doch bei Carl musste niemand diese Furcht haben. Er zeigte auch Napoleon die kalte Schulter, als ihn dieser 1805 bedrängte, anstelle von Kaiser Franz den österreichischen Thron zu besteigen.
Stattdessen nützte Carl seine Machtfülle dazu aus, eine tiefgreifende Reform des Militärwesens einzuleiten. Es war wohl die bedeutendste Reform des Heerwesens in Österreich seit Einführung des stehenden Heeres, also seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. In zwei Abschnitten – zwischen 1801 und 1805, sowie zwischen 1806 und 1809 – wurden grundlegende, ja revolutionäre Maßnahmen gesetzt. Am Beginn seiner Reformen stand die Abschaffung des lebenslangen Militärdienstes. Zehn, zwölf und vierzehn Jahre, je nach Waffengattung wurden in der Folge als ausreichend angesehen.
In unseren Augen noch immer eine beträchtlich lange Dienstzeit, damals ein Wagnis. Doch gemessen an der Verkürzung des Dienstes von lebenslang – d. h. bis zur Invalidität oder Gebrechlichkeit – auf zehn bis vierzehn Jahre war jede Dienstzeitverkürzung in Österreich, auch jene von neun auf sechs Monate, eine Bagatelle.
In den Soldaten wurde auch nicht mehr das Menschenmaterial gesehen, die blöde Masse, sondern das Individuum. Jeder einzelne Soldat sollte besser behandelt, sollte als Mensch angesprochen werden. Nicht nur das. Das zweite große Anliegen des Erzherzogs war es — und diesem Anliegen widmete er schließlich sein beträchtliches schriftstellerisches Talent —, Wissen und Bildung innerhalb der kaiserlichen Armee zu heben. Für die einzelnen Waffengattungen wurden kleine Reglements ausgearbeitet. Im Dienstreglement für den Gemeinen von 1807 stehen dann so bemerkenswerte und erst nach und nach auch in die Re- glements anderer Armeen übernommene Sätze wie: „Ein Kriegsmann muss ein Ehrenmann sein“. Werden einem Gemeinen
„Recruten zur Aufsicht und ersten Bildung übergeben, so soll er es als eine Ehre ansehen, seine künftigen Kriegsgefährten mit Liebe und Gelassenheit über den Dienst zu belehren und sie zu Soldaten zu bilden“. Den Offizieren und Generalen der österreichischen Armee waren die 1806 in Zusammenarbeit von Erzherzog CARL und einigen der brillantesten Köpfe der österreichischen Armee geschriebenen „Grundsätze der höheren Kriegskunst“ gewidmet. Denn CARL wollte jene erschreckenden Mängel abschaffen, die dem Durchschnittsoffizier in seiner militärischen Bildung anhafteten. Schließlich wurde diese Schaffensperiode des Erzherzogs durch die „Grundsätze der Strategie“ abgeschlossen.
Die Reformen des Militärwesens schlossen aber auch durchgreifende Neuerungen am militärischen Verwaltungsapparat ein. Der Hofkriegsrat, die zentrale militärische Behörde und Vorläufer des Kriegsministeriums, wurde von Grund auf neu organisiert. Jede einzelne Abteilung hatte regelmäßig Administrationsberichte vorzulegen und einen Nachweis ihrer Tätigkeit zu führen. Was hätte es doch für unsinnige Schreibereien gegeben. Die ärgste Nichtigkeit musste, wenn die Unterschrift des Kaisers erforderlich war, allein beim Hofkriegsrat 48 Stellen durchlaufen, wobei der Inhalt der Stücke zwanzigmal ab- und eingeschrieben wurde. Das Niederösterreichische Generalkommando - dem heutigen Militärkommando vergleichbar - führte eine monatelange Korrespondenz mit dem Hofkriegsrat, wobei es darum ging, für den Dachboden des Generalkommandos eine Katze anzuschaffen, weil eine Schar von Mäusen die Akten angeknabbert hatte, und ähnliches mehr.
Alles das schaffte Erzherzog Carl ab. Ein Augiasstall musste „ausgemistet“ werden. Carl gründete die Österreichische Militärische Zeitschrift und forderte die Schaffung einer „Scientifischen Akademie für die Wissenschaft des Krieges“, eine Generalstabsakademie also, wie sie erst 1852 entstand. Er musste sich in einem harten Ringen mit dem Finanzminister durchsetzen, um die nötigen Waffen, Ausrüstungsgegenstände und Uniformen zu bekommen, um die Verluste der vorangegangenen Kriege auszugleichen. Er bekam nicht alles, doch alles das, was notwendig war. Beharrlichkeit war also sicher eine der markantesten Eigenschaften dieses Habsburgers. Als es 1808 darum ging, eine Art Volksbewaffnung durchzuführen und in den Kernlanden der Monarchie eine Landwehr aufzustellen, sprach sich Carl zunächst dagegen aus. Nicht, weil er dem Gedanken der Volksbewaffnung an sich widersprechen wollte, sondern aus praktischen Überlegungen der militärischen Führung. Er glaubte nicht, dass es möglich sein würde, ohne erhebliche Störungen reguläres Militär und kurz ausgebildete Landwehr auf dem Gefechtsfeld gemeinsam zu führen. Er ließ sich jedoch überreden und bemühte sich im Feldzug 1809, bei Aspern wie bei Wagram, das Beste aus dieser Kombination herauszuholen. Der Krieg 1809 stellte den Höhepunkt und das Ende der militärischen Laufbahn des Erzherzogs dar. Er war von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt gewesen, hatte aber nichts dazu beigetragen, um ihn herbeizuführen. Der erste Teil des Feldzugs schien den Befürchtungen recht zu geben. Österreich war mit der Reform des Heerwesens noch nicht fertig und ohne Verbündete war es zu schwach, um Napoleon besiegen zu können. Doch dann kam die Schlacht von Aspern. Der Sieg, den Carl über die Franzosen errang, war sicherlich nicht glorios erfochten worden, doch geschickt. Er hatte mit allen Mitteln getrachtet, eine örtliche zahlenmäßige Überlegenheit zu erreichen, hatte konsequent geführt und schließlich am Höhepunkt der Schlacht durch sein persönliches Eingreifen dem Zentrum Halt gegeben. 1857 schrieb über diese schließlich auch im Reiterstandbild auf dem Heldenplatz verewigte Episode ein deutscher Autor: „Schon pflanzte sich der Ruf fort, dass die Schlacht verloren sei, aber Erzherzog Carl war der schwierigen Lage gewachsen; die Grenadiere der Reserve wurden im Eiltempo herangebracht und schachbrettförmig in Karrees aufgestellt; die zahlreichen Dragoner ... schlossen im Galopp auf und mit der Fahne des Zach‘schen Regiments in der Hand nahm der tapfere Fürst den Kampf wieder auf.“ Napoleon wurde besiegt.
Der das schrieb, war Friedrich Engels, Freund und Mitstreiter von Karl Marx. Engels hob die Leistungen und die Persönlichkeit Erzherzog Carls aber nicht nur an dieser im 14. Band der Marx-Engels-Werke enthaltenen Stelle hervor, sondern auch bei einer Reihe anderer Gelegenheiten, etwa im Zusammenhang mit dem Gebirgskrieg oder mit dem Festungswesen. Der Erzherzog erfuhr somit Anerkennung von einer Seite, von der das nicht so ohne weiteres zu erwarten war.
Der eigentliche, auch führungsmäßige Höhepunkt im Feldherrndasein Erzherzog Carls war aber nicht Aspern, sondern die Schlacht von Wagram, wo er, der wochenlang darauf gedrungen hatte, dass es zu einem Friedensschluss kommen sollte, mit zahlenmäßig deutlich unterlegenen Truppen, Napoleon schwere Verluste zufügte und schließlich zu einem geordneten Rückzug nach Mähren überging, weil ihm die Erhaltung der Armee und der Schutz der Länder der böhmischen Krone aufgetragen waren.
Damit endete die militärische Laufbahn des Erzherzogs. Die von ihm geschaffene Armee, die in seinen Stäben geschulten Generale, vor allem Radetzky, setzten nur noch das fort, was er begonnen hatte. Radetzky, indem er modifizierte und anpasste, andere, indem sie starr und doktrinär Carl zu kopieren suchten. Insbesondere die Schlacht von Wagram wurde zum Lehrbeispiel, das für fast ein ganzes Jahrhundert verbindlich blieb. Dass dies so war, kann aber gewiss nicht Erzherzog Carl zum Vorwurf gemacht werden. Er musste sich 1809 zurückziehen und lebte seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in einem offenen Gegensatz zu Metternich, der zeitweilig in Feindschaft umschlug. Carl kritisierte sein System. Er war Anlaufpunkt für alle jene, die in Biedermeier und Vormärz mit ihren Ideen nicht durchdrangen und hielt ihrer Resignation seinen Fortschrittsglauben entgegen.
Als er am 30. April 1847 starb, konnte man Bilanz ziehen: Zu Grabe getragen wurde ein Mensch, der sich mehr als einmal überwunden hatte und mit einer unendlichen Beharrlichkeit seinen Weg gegangen war. Zu Grabe getragen wurde ein Feldherr, der die Grenzen seiner Möglichkeiten immer erkannt hatte, aber über diese Grenzen hinaus wirken musste; ein Feldherr, der 1797 im verzweifelten Versuch, seine Truppen zum Stehen zu bringen, mit dem Degen „dreinhauen“ konnte und ihn auf dem Rücken eines fliehenden Soldaten abbrach; ein Feldherr, der seine eigenen Handlungen so kritisch schilderte, dass schließlich die Zensur eines seiner Werke verbieten wollte. Ein Mann, der es als physische Pein empfand, strafen zu müssen und dennoch nie zögerte, seinen eigenen Maximen von Pflicht und Ehre zum Durchbruch zu verhelfen. Ein Mann schließlich, der bereit war, durch persönliche Tapferkeit das an sich zu reißen, was ihm zu entgleiten drohte. Zu Grabe getragen wurde der bedeutendste Reformer des österreichischen Heerwesens überhaupt, der Klassiker der Kriegskunst, dessen „Ausgewählte Schriften“ zum Wichtigsten gehören, was an militärischer Literatur im 19. Jahrhundert entstanden ist. Seine „Grundsätze der Strategie“ wurden beispielsweise in alle wichtigen Sprachen, darunter auch ins Türkische übersetzt. Manchmal schien es in den Folgejahren, Erzherzog Carl würde ein österreichisches Schicksal erfahren, denn die Anerkennung, die ihm durch Goethe oder die eine seiner Schöpfungen - die Österreichische Militärische Zeitschrift - durch Karl Marx gezollt wurde, schlug gewichtiger zu Buch als die ganze hagiographische Beschäftigung. Vielleicht bedurfte es dichterischer Intuition, um die Bedeutung Erzherzog Carls in einem Satz zum Ausdruck zu bringen. Der in Melancholie dahinsiechende Nikolaus Lenau war es, der auf die Nachricht vom Tod des Erzherzogs ausrief: »Erzherzog Carl stirbt nicht!«
Auszug aus dem Festvortrag von Univ. Doz. Dr. Rauchensteiner am Jahrgangsa- bend Erzherzog Karl, am 28. April 1981. |